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Die Kunst der Unterscheidung – drei Dimensionen in einem Atemzug

Normalerweise wird der Atemvorgang als ein rein physikalisch ablaufender Prozess verstanden. Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich um eine muskulär verursachte Ausdehnung der Lunge, welche wie eine Art Pumpe die Luft in den Körper hineinsaugt und diese dann wieder durch Entspannung der Muskeln nach außen entlässt. Die Lunge wird durch den vom vegetativen Nervensystem automatisch gesteuerten Vorgang mit sauerstoffhaltiger Luft gefüllt, so dass in den Lungenbläschen der notwendige Gasaustausch zwischen Blut und Atemluft stattfindet. Es scheint sich um einen rein körperlichen Vorgang zu handeln, der ständig, auch nachts, wenn das Bewusstsein abwesend ist, stattfindet.

Wir könnten uns fragen, welche Empfindungen durch eine derartige Vorstellung hervorgerufen werden. Wie fühlt es sich an, wenn wir die Lunge als mechanische Saugpumpe denken?

Mittels einer dem Menschen zugänglichen Freiheit ist es möglich, willentlich in diesen Vorgang einzugreifen, ihn auf vielerlei Art zu verändern, indem wir beispielsweise verlangsamt tief einatmen und den Atemstrom, bis in den Bauch, in die Flanken und zuletzt auch in die Lungenspitzen hinein führen, um so das vollständige Atemvolumen zu nützen. Das Ausatmen kann ebenfalls intensiviert und langsamer gestaltet werden. Die übliche Vorstellungswelt, aus der heraus wir das Ganze erleben und verstehen ist eine rein materielle. Das Wohlbefinden steigt, weil wir mehr Sauerstoff in uns aufnehmen, das Denken wird klarer, da die Hirnzellen besser mit eben diesem Lebenselixier versorgt werden. Alle Zellen und Organe profitieren davon. Die Gesundheit, so wissen wir, wird durch eine derartige Vorgehensweise rundum gefördert.

Materiell gesehen dient der Atem dem Gasaustausch. Er erhält sein Optimum bei einer bestmöglichen Sauerstoffversorgung und Kohlendioxidentsorgung des Körpers. Was aber wäre, wenn wir eine seelische, vielleicht sogar hinzukommend auch noch eine geistige Ebene mit in die Betrachtung einbeziehen würden?

Bei der von Ilse Middendorf gegründeten Methode des »Erfahrbaren Atems« (1) z.B. rückt das Bewusstsein und die Art des Erlebens in den Mittelpunkt des Interesses. Wenn die seelische Ebene hinzukommt, gewinnt die Beziehungsaufnahme an sich eine über das Materielle hinausragende Bedeutung. Wir könnten es auch so ausdrücken: Die seelische Dimension tritt mit der bewussten Wahrnehmung von etwas, wie z.B. des Atems, auf den Plan. Sie würde sich demnach vor allem durch eine bewusst getätigte Beziehungsaufnahme zu einem Objekt auszeichnen. Das Erstaunliche auf der seelischen Ebene scheint u.a. zu sein, dass, indem wir ein Objekt bewusst und konkret wahrnehmen, wir uns auch unserer selbst als Beobachter gewahr werden. Das “Ich” und das von uns Wahrgenommene werden unterschieden. Das scheint normal zu sein, ein alltäglicher Vorgang, der aber interessant wird, sobald wir den eigenen Körper als Objekt der Betrachtung wählen.

In der Entspannungsübung des Yoga beispielsweise ist dies möglich. Der Körper ruht bewegungslos am Boden, das Bewusstsein jedoch, mit seiner frei beweglichen Wahrnehmung, ist aktiv und beobachtend tätig. Der Übende differenziert sich natürlicherweise vom Körper, indem er sich selbst im Aktivsein bemerkt. Bei der “Handlung” handelt es sich allerdings nicht um eine physische im herkömmlichen Sinn, sondern um eine rein seelische. Das Bewusstsein ist aktiv. Damit diese Bewusstwerdung eintreten kann, sollten bei der Entspannung keine Suggestionen verwendet werden, sondern der reale Zustand, so unvollkommen wie er gerade ist, wahrgenommen werden. Auch emotionale Reaktionen, die aus dem subjektiven Inneren auftauchen, sollten nicht die Oberhand gewinnen, da sie die unwiderstehliche Neigung haben, den Raum einzunehmen und wie eine Hülle all das, was objektiv vorhanden ist, zu überstülpen.

Ob das Wahrgenommene bei mir selbst Sympathie oder Antipathie auslöst, meine emotionale Reaktion also, wird als unwichtig erachtet, damit eine größere Klarheit und freiere Position gegenüber der eigentlichen Sache (bei der Entspannungsübung wäre dies z.B. der Körper oder die Bewegung des Atems) stattfinden kann. So tritt der Übende auch den eigenen Emotionen beobachtend gegenüber.

Interessant ist, dass sich Verspannungen meist unmittelbar zu lösen beginnen, sobald das Licht der Wahrnehmung auf sie fällt. Unbewusst hatten wir an etwas festgehalten, was sich auf körperlicher Ebene in Form einer Verspannung ausgedrückt hatte. Auf diese Art praktiziert führt die Entspannungsübung zu einer Beziehungsaufnahme und empfindsamen Nähe zum eigenen Körper, der aber vom “Ich”, dem Beobachter, unterschieden wird. Der Körper wird in der Erfahrung zum Objekt.

Dieser Vorgang kann als seelisches Erleben bezeichnet werden. Die Seele verbindet über die Wahrnehmung das “Ich” (den Geist) mit der materiellen Welt. Die Praxis einer differenzierten, von Projektionen freien Wahrnehmung würde demnach zur Entwicklung eines Bewusstseins über die Dreiheit von Geist (Ich, Subjekt), Seele (Licht, oder Bewusstsein als Instrument der Wahrnehmung) und Körper (manifestierte Welt, Objekte der Wahrnehmung) führen. Ohne diese unterscheidende Fähigkeit bleiben wir in der materiellen Vorstellungswelt mit ihren subjektiven Gefühlen gefangen.

Unsere Gedanken und Vorstellungen spielen eine entscheidende Rolle beim erkennenden Erleben. Sie sind wie ein Schlüssel, der die Tür zur seelischen Beziehungsaufnahme mit ihrer beruhigenden und befreienden Wahrnehmung öffnet. Ein solcher, das Bewusstsein aus der materiellen Enge erhebender Gedanke muss über die stoffliche Ebene hinaus auch ein Wissen über die unsichtbaren Dimensionen in sich tragen. Das folgende Zitat aus dem Buch »Yoga und Christentum« von Heinz Grill soll als Beispiel dienen für einen “ganzheitlichen” Gedanken, der alle drei Realitätsebenen in sich vereint und somit die verschlossene Türe öffnen kann:

Nicht die irdische Welt atmet in den Zellen, sondern die übersinnliche oder geistige Welt. Sie ist feiner als das Feinste, leichter als das Leichteste, weiter als das Weiteste.” (2)

Lassen Sie diesen Gedanken einen Augenblick auf sich wirken. Wie wirkt eine derartig erweiterte Vorstellung auf Ihr Empfinden? Um den Gedanken nachempfinden zu können, könnten wir uns vergegenwärtigen, was eine Körperzelle darstellt. Sie ist so klein, dass sie mit dem bloßen Auge nicht gesehen werden kann. Ein Biologiebuch könnte dabei helfen, einen realen Eindruck von ihrem Aufbau und ihrer Grundstruktur zu erhalten. Diese ist für alle lebenden Organismen, seien es primitive Einzeller, hochentwickelte Tiere, der Mensch oder auch Pflanzen annähernd gleich. Die Pflanzen weisen zwar hinzukommend grüne Chloroplasten in ihrem Zellplasma auf, da sie Photosynthese betreiben, und besitzen stabilere Zellwände, sind aber ansonsten genauso wie die Zellen aller anderen lebenden Organismen aufgebaut. Es handelt sich bei der Zelle also um eine Art universelle Erscheinung des Lebendigen.

Alle Zellen, egal ob es sich dabei um Einzeller oder komplexe Organismen handelt, “atmen”. In der Wissenschaft spricht man von innerer oder Zellatmung. Diese findet in Zellorganellen, den so genannten Mitochondrien statt. Dass dieses innere Leben in den Zellen nicht nur ein biochemisches, d. h. materielles Leben ist, sondern “die übersinnliche oder geistige Welt darin atmet”, kann vielleicht nicht sogleich mit dem Verstand, wohl aber in der Empfindung nachvollzogen werden. Mit der Atmung berühren wir das Phänomen “Leben” schlechthin – welches als “Mysterium” bezeichnet und deshalb materiell niemals befriedigend erklärt werden kann.

Aus Respekt vor dieser wissenschaftlich nicht leicht fassbaren “Tiefe” oder auch “Größe” des lebendigen Atems wird beim »Erfahrbaren Atem« Ilse Middendorfs der Atemvorgang möglichst nicht willentlich ergriffen und manipuliert, sondern erst einmal beobachtend kennengelernt. Mit Hilfe des Bewusstseins lernt der Mensch den Atem und somit sich selbst unterscheidend kennen. Er oder sie erlebt, woher dieser kommt und wohin er geht, in welchen “Räumen” er sich bewegt, und wie er auf bestimmte Laute, Gesten und Bewegungen reagiert. Bei all diesen Bemühungen erscheint der Atem wie ein eigenständiges lebendiges Gegenüber. Die Beobachtung wird zu einer “Berührung” mit etwas, das dem Einzelnen laut Ilse Middendorf sogar Orientierung im Leben geben kann. Sie spricht in einem 1990 in der leider nicht mehr existierenden Zeitschrift »Pierrot« veröffentlichten Interview über den “Leitfaden Atem”. Weiterhin beschreibt sie in ihrer Atemlehre die Möglichkeit, ein “Atemgespräch” zu führen, welches sich in sensiblen, sehr ästhetischen, wie schwerelos fließenden Hand- und Armbewegungen ausdrückt. Interessant ist, wie bei dem von Ilse Middendorf dargestellten, auf seelische Aspekte erweiterten Ansatz völlig andere Werte zur Geltung kommen als bei einer rein materiellen Betrachtung. In dem Interview spricht sie zum Beispiel voller Begeisterung über das Altwerden. Sie war damals gerade 80 geworden und sagte: “Ich finde, dass der Atem dazu verhilft, dass man gerne älter wird, weil man nicht weniger wird. Die physische Kraft wird etwas weniger, aber die Lebenskraft als solche steigert sich. Das seelische Leben wird stärker und umfangreicher und das geistige auch. Ich fühle mich noch voll in der Entfaltung.” (1)

Neben der entwickelten Begegnungs- und Beziehungsebene im Atem scheint es noch eine weitere Möglichkeit hinsichtlich der Erfahrung mit dem Atem zu geben. Wir könnten uns zum Beispiel fragen, welche Wirkungen mentale Vorstellungen auf das Atemerleben entfalten. Ich kann den Atem “weit”, in Verbindung mit dem mich umgebenden grenzenlosen Luftraum, oder “eng”, d.h. rein physisch, an den Körper gebunden, denken. Das Bewusstsein kann sich, je nachdem, wie die Vorstellungen geartet sind, auf den physischen Leib begrenzen, sich ganz mit diesem identifizieren, oder sich über die körperlichen Grenzen hinaus in kosmische Weiten ausdehnen. Der letztere Zustand wird allgemein als entspannt, leicht und frei erlebt. Beim ersteren tritt die Schwerkraft des Körpers mehr in das Erleben, und auch der Atem fühlt sich materieller an, d.h. weniger mit der Weite des offenen Raumes in Verbindung stehend. Diese unterschiedlichen Erfahrungen ein und desselben Atems können anhand einer Übung auf einfache Art erlebt werden:

Führen Sie im Stehen bei entspanntem Oberkörper beide Arme seitlich mit einer langsamen, weit ausholenden Bewegung nach oben, bis sich die Hände über dem Kopf berühren. Sodann lassen Sie die Arme wieder langsam wie schwerelos in ihre Ausgangslage zurückgleiten. Der gesamte Vorgang kann rhythmisch mehrmals wiederholt werden.

Diese einfache Übung kann auf zweierlei Art ausgeführt werden:

A Sie verbinden das ruhige Heben und Senken der Arme mit dem Ein- und Ausatem in der Weise, dass sich die Lungen beim Anheben maximal möglichst vollständig bis in die Lungenspitzen hinein füllen und beim Absenken ebenso vollständig wieder entleeren. Hierbei wird der Wille eingesetzt und der Atem bewusst ergriffen.

B Die Aufmerksamkeit richtet sich nun weniger auf den Körper, auf das Ergreifen und Führen des Atemstroms und auf das vollständige Füllen der Lungenflügel mit Luft, sondern sie richtet sich in den Außenraum, in das unmittelbare Umfeld, in die elegante Bewegung der Arme wie auch in die Flanken, welche an der Bewegung beteiligt sind. Mit dem Tastsinn feinfühlig wahrnehmend wird das Luftelement erlebt und die den Körper umgebende Atmosphäre erspürt. Ansonsten handelt es sich um die gleiche Übung, nur dass die gedankliche Ausrichtung eine andere ist. Eventuell verbindet sich auch hier der Ein- und Ausatem mit dem Heben und Senken der Arme, doch wird dieses im Gegensatz zur ersten Ausführung nicht forciert.

Der Unterschied in der Atemqualität ist subtil und dennoch gravierend. Er kann sogleich bemerkt werden. Je nachdem, wie die Aufmerksamkeit ausgerichtet wird, erleben wir den Atem entweder physischer oder aber körperfreier, mit der Luft im offenen Raum in Verbindung. Die erste, eher vitale Form, lädt den Körper energetisch auf. Die zweite Art der Ausführung dagegen bringt ein leichteres Empfinden, Entspannung und ein Gefühl der Ruhe mit sich, während bei der ersten Art aufgrund der belebenden Vitalisierung auch eine subtile Unruhe spürbar wird. Diese entsteht u.a. durch die stärkere Identifizierung des Bewusstseins mit der Körperlichkeit.

Was die Atmung betrifft, könnten wir den Körper auch als ein offenes Gefäß, oder eine Art Schale denken, welche(s) den Atem von außen kommend empfängt, anstatt ihn wie eine Pumpe mechanisch in sich hinein zu saugen. Der als eigenständige Bewegung erlebte Atem durchdringt in der weiteren Folge den Leib in all seinen Teilen bis in den letzten Winkel, genauer gesagt bis in jede einzelne Zelle, um den Körper anschließend mit der Ausatmung wieder zu verlassen. Der Ursprung der wahrgenommenen Bewegung läge bei dieser Vorstellung nicht im Körper, sondern in der unendlichen Weite des Außenraumes, im “Kosmos”. Eine derartig auf das Umfeld erweiterte Vorstellung würde ein vollkommen anderes Empfinden hervorbringen, als jene zu Beginn dieses Artikels geäußerte materielle Sicht. Der Atem würde als eine freie Bewegung erlebt werden, die weitaus größere Räume umfasst, als bisher angenommen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Erfahrung, dass die Begrenzung des Vorstellungslebens auf das Physische zu einer Zunahme der Ängste und vermehrter Unruhe führt, während eine Ausdehnung des Bewusstseins auf außerkörperliche Bereiche unmittelbar zu einem Empfinden von Ruhe, Leichtigkeit und Entspannung beitragen kann.

©Christine Richter

  1. Ilse Middendorf (1910-2009) gründete eine Atemschule und eine heilsame Methode im Umgang mit dem Atem, welche sie “Der erfahrbare Atem” nannte. Mit gleichem Titel erschien 1984 ein Buch von ihr imJunfermann-Verlag.
  2. Zitat aus dem Buch: Yoga und Christentum von Heinz Grill, 4. Auflage 1998, Verlag für Schriften von Heinz Grill, S.71 (zurzeit nur antiquarisch erhältlich).

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