Das Grundeinkommen
Ist der Mensch schöpferisch, gerecht und fähig selbstlos tätig zu sein?
Das sogenannte »bedingungslose Grundeinkommen« gewährt jedem erwachsenen Bürger einen zum Leben ausreichenden Betrag, der vom Staat lebenslang ausbezahlt wird und nicht zurückerstattet werden muss. Stellen Sie sie sich nur einmal vor: leben können ohne Geld verdienen zu müssen! Als ich einige italienische Freunde fragte, was sie darüber denken, sagten sie: „Bei uns Italienern wird das mit Sicherheit nicht funktionieren! Es würden sofort alle aufhören zu arbeiten.“. Auch in meinem Herkunftsland Deutschland wurde ähnlich geantwortet, und ich muss sagen, dass ich bis vor kurzem ebenso dachte. Aber sind wir Menschen wirklich so bequem, dass wir von der Notwendigkeit des Überlebens getrieben werden müssen, um uns ins Zeug zu legen? Gäbe es nicht vielleicht auch andere Gründe aktiv zu werden, zum Beispiel etwas Schönes oder Nutzbringendes zu schaffen und dem Leben dadurch Sinn zu verleihen?
Das Arbeiten für die anderen als soziale Notwendigkeit ist möglicherweise nicht nur eine auferlegte Pflicht der modernen Gesellschaft, sondern ein tiefer Wunsch, der in uns Menschen auf natürliche Weise angelegt ist. Hierzu müssten jedoch die Bedingungen, wie beispielsweise der Lohn und die Teilhabe am Herstellungsprozess, wie auch die Mitbestimmung daran, was hergestellt wird, gerecht gewählt sein. Es würde nicht mehr um des Geldes willen allein gearbeitet werden müssen, wodurch es leichter möglich wäre, dass jeder »seinen Platz« im sozialen Gefüge findet.
Hinsichtlich der zukünftig knapp werdenden Arbeitslage durch die bereits begonnene »Industrialisierung 4.0« (1) könnte die Idee des Grundeinkommens sogar zum Rettungsanker werden. Sie könnte der drohenden Depression und Degenerierung aufgrund von Beschäftigungsmangel und fehlendem Sinn im Leben effektiv entgegenwirken. Wir Menschen wollen in Wirklichkeit unsere Talente entfalten, am Sozialleben teilhaben und auf produktive Weise mit angemessenem Ausgleich einen Beitrag leisten, oder nicht? Die Frage ist, ob es tatsächlich ein Konzept gibt, das diesem hohen, ethischen Anspruch gerecht werden kann?
Die Antwort ist „Ja“, es existiert ein Konzept, das die Bereiche der Wirtschaft, des Rechts und der individuellen Fähigkeiten berücksichtigt und harmonisch aufeinander abstimmt. In einem von Rudolf Steiner (2) so benannten »Sozialen Organismus« werden die eben genannten drei Bereiche auf den ihnen gemäßen Platz gesetzt und für jeden Bürger funktionierend und befriedigend gestaltet. Es handelt sich beim »Sozialen Organismus« um etwas Lebendiges. Die gesamte Gesellschaft wird auf logische und natürliche Art gegliedert. Angesicht des Chaos, das in Folge des ersten Weltkrieges entstanden war, schrieb und sagte Rudolf Steiner, dass das generelle Problem in der mangelnden Einsicht gegenüber der Tatsache liege, dass das Sozialleben in erster Linie eine Gliederung anstelle einer Vereinheitlichung benötige. Er sah das menschliche Sozialleben als einen zusammengehörigen Organismus, der aber ihm zufolge in drei Bereiche zu gliedern sei und nannte dies »Soziale Dreigliederung«.
Entsprechend wie beim menschlichen Organismus, der sein Funktionieren auch dem harmonischen Zusammenspiel verschiedener Organe und Bereiche wie Herz, Gehirn oder Verdauungsapparat verdankt, besteht das Sozialleben ebenfalls aus drei grundverschiedenen, sich gegenseitig ergänzenden Gebieten. Diese verfolgen ihre jeweilige Aufgabe – ein jedes für sich – in weitgehender Unabhängigkeit voneinander, um letztendlich auf sinnvolle Art fein abgestimmt und miteinander koordiniert im Gesamtablauf zusammenzuwirken. Für das menschliche Sozialleben sind dies die Wirtschaft, die Politik mit der Gesetzgebung und als dritter Bereich die Kunst, Kultur, sämtliche Schul- und Bildungseinrichtungen, kurz gesagt das individuell menschliche geistige Leben. Für die Gesundheit des »Sozialen Organismus« sei es nötig – so Rudolf Steiner – dass keiner der drei Bereiche die übrigen dominiere.
Beginnen wir mit der Individualität, den Fähigkeiten, Talenten und der Kreativität, über die der Einzelne verfügt, also mit dem, was uns voneinander unterscheidet. Genau betrachtet sind es die Schulen, Universitäten und die Kultur, welche diese fördern sollen, doch letztendlich drücken sich die individuellen Anlagen in allen Lebensbereichen aus, vor allem auch im Beruf. Ein geeignetes Ideal für diesen Bereich wäre naturgemäß die Freiheit.
Das zweite Feld, mit Politik und Rechtsprechung, wird allgemein dem Staat zugeschrieben. Es beinhaltet all dasjenige, was uns als Bürger, das heißt als Subjekt mit bestimmten Rechten, gleichermaßen betrifft. Hier ist die Freiheit überall dort eingeschränkt, wo sie das Recht und Wohlsein anderer berührt. Ein angemessener ideeller Wert für diesen Bereich sind Gleichheit und Gerechtigkeit.
Der dritte, von den anderen beiden zu unterscheidende Teil ist die Wirtschaft, also die Herstellung, der Handel sowie der Verkauf oder Verbrauch von Gütern. Bei etwas Nachdenken werden wir darauf kommen, dass in diesem Bereich weder die Freiheit noch die Gleichheit oder Gerechtigkeit als Ideal genommen werden können, da sie nicht das Wesentliche treffen. Das, was hier des Menschen Herzen am intensivsten motiviert ist die Brüderlichkeit, das Arbeiten um der anderen willen. Eine große Motivationskraft geht mit diesem Ideal einher, es berührt des Menschen Herz, weil Sinn mit ihm ins Leben kommt.
Was geschieht, wenn eines der drei Systeme den Vorrang vor den beiden anderen erhält? Wenn beispielsweise der Staat die Inhalte, Methoden und den Zugang zu den Bildungsstätten vorschreibt? Wir können annehmen, dass die gesamte Erziehung und Bildung dann darauf ausgerichtet sein wird, den Interessen des Staates zu dienen. Der Einzelne fände sich in einem Schematismus eingeschachtelt und wäre gezwungen, sich unterzuordnen. Für die Entfaltung individueller Kreativität und Impulse gäbe es nicht viel Raum. Wenn dagegen Firmen und Unternehmen das Sagen haben, zum Beispiel indem sie Universitäten finanzieren, bedeutet das, dass sie durch ihre Macht den Geldhahn zu öffnen oder zu schließen, die Forschungsinhalte beeinflussen.
Würde sich im dritten Fall ein Individuum in den Vordergrund schieben und allein Politik, Justiz und in weiterer Folge sogar auch den wirtschaftlichen Bereich lenken, dann hätten wir eine Diktatur. In der Wirtschaft entstehen sogenannte Monopole, wenn sich ein Individuum mit seinem postulierten Ideal der Freiheit alles einverleibt. Wenn dagegen die Wirtschaft dem Staat die Richtung vorgibt, würde eine Art Utilitarismus resultieren und das Wohl des Menschen stände hintenan. Eine weitere Form der Entgleisung wäre zum Beispiel der Sozialismus mit seinen »Fünfjahresplänen«, bei denen der Staat vom grünen Tisch aus die Wirtschaft zu lenken versucht und das ihr zugehörige Ideal der Gleichheit auf den Wirtschaftsbereich projiziert.
Alle diese Extreme sind sicherlich nicht erstrebenswert. Interessant ist, dass die drei genannten Ideale mit dem Leitspruch der französischen Revolution übereinstimmen: Libertè, égalité, fraternité. Offensichtlich scheint die Realität recht weit von dem oben beschriebenen Ideal entfernt zu sein. Doch vielleicht ist die Situation gar nicht so verkehrt, denn laut Steiner trägt die »Arbeitsteilung«, welche sich zunehmend in der Geschichte des Arbeitslebens etabliert hat, tatsächlich das Ideal der Brüderlichkeit in sich. Da der Mensch auf diese Art nicht etwas für sich sondern für die Anderen produziert, manifestiert sich ein Altruismus, der nicht sentimental, sondern wirklich und praktisch ist.
Die drei beschriebenen, bedeutsamen Systeme können somit tatsächlich zu einem gesunden Sozialleben beitragen, wenn wir sie voneinander differenzieren und diese gleichzeitig wiederum sich gegenseitig ergänzend auf effiziente Weise aufeinander abgestimmt werden. Übertragen auf das »Bedingungslose Grundeinkommen« können wir sagen, dass es in uns nicht nur einen »homo oeconomicus« gibt, oder einen »homo politicus«, sondern auch einen »homo spiritus«, der sich frei und konstruktiv ausdrücken, seine Fähigkeiten einsetzen und zum Wohle aller entfalten will.
©Erik Bornscheuer
Anmerkungen:
- Industrialisierung 4.0 ist ein Begriff, der 2011 im Zusammenhang mit der »Hannover Messe« geprägt wurde. Er beschreibt eine Entwicklung, bei der Roboter, Computer und elektronisch gesteuerte Intelligenz eine führende Rolle in der Produktion einnehmen werden und in deren Folge eine deutliche Zunahme der Beschäftigungslosigkeit zu erwarten ist.
- Rudolf Steiner (1861 – 1925), „Geistforscher“ und Gründer der „Anthroposophie“, Inspirator der Waldorfschulen, der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, einer ganzheitlich orientierten Medizin und weiterer Impulse im Bereich Kunst und Kultur.
Pyramiden-Bild von Nattanan Kanchanaprat über Pixabay